Kultur

Kinodrama „Ellbogen“: Viel Wut und wenige Chancen

Um sich von anderen nicht vorführen zu lassen, schreckt eine junge Frau auch vor Gewalt nicht zurück: Das Kinodrama „Ellbogen“ hält einer ignoranten Gesellschaft den Spiegel vor und dürfte für Kontroversen sorgen.

von Nils Michaelis · 6. September 2024
Melia Kara in "Ellbogen"

Bloß nichts auslassen: Die junge Berlinerin Hazal (Melia Kara) will ihre Träume und Sehnsüchte leben.

Mit bald 18 Jahren seinen Platz im Leben zu finden, ist schon schwer genug. Erst recht, wenn andere einem diesen verweigern oder meinen, die Wahl für einen treffen zu müssen. Und wenn man zwischen mehreren Kulturen aufwächst und keine davon echten Halt bietet.

Genauso ergeht es Hazal. Die Familie der 17-jährigen Berlinerin hat Wurzeln in der Türkei. Anstatt als ungelernte Mitarbeiterin in der Bäckerei ihrer Eltern zu enden, möchte sie eine Ausbildung machen und ihren eigenen Weg gehen. Doch dieser ist mit zahlreichen Hindernissen gepflastert. 

Das merkt Hazal nicht nur an den unzähligen Bewerbungen, die sie vergeblich verschickt hat. In den Augen der „biodeutschen“ Arbeitgeber*innen bleibt sie offenbar die „Türkin“ mit ausbaufähiger Schulbildung und schlechten Startchancen. Auch die Eltern können oder wollen nicht erkennen, was ihre Tochter wirklich ausmacht. 

Ausgrenzung als permanente Erfahrung

Doch Hazal denkt nicht permanent an ihre berufliche Zukunft. Sie möchte auch Spaß haben. Wo, wie und wann sie will. Zur Feier ihres 18. Geburtstages kommt für sie und ihre Freundinnen nur Berlins angesagtester Club an. Doch daraus wird nichts, die Frauen scheitern am Türsteher. Und schon wieder ist das Gefühl der Ausgrenzung da.

Als die Gruppe wenig später von einem Mann im U-Bahnhof belästigt wird, kommt es zu einem tödlichen Zwischenfall. Nun plagt Hazal weitaus mehr als das unangenehme Gefühl, wieder mal gezeigt bekommen zu haben, nicht dazuzugehören. Hals über Kopf flüchtet sie zu einer Internet-Bekanntschaft nach Istanbul. Doch ihre Hoffnung wird enttäuscht: Auch am Bosporus warten Enttäuschungen und unvorhergesehene Verwicklungen.

„Ellbogen“ basiert auf dem gleichnamigen Roman der Journalistin und Schriftstellerin Fatma Aydemir. Angesichts seiner sehr direkten und wenig differenzierten Kritik an den gesellschaftlichen Umständen, die der Protagonistin das Leben schwermachen, erntete das Buch gemischte Reaktionen. Die Süddeutsche Zeitung sprach von „zwei Tritten in den Magen“.

Ruppige und dünnhäutige Protagonistin

Ähnlich könnte es der bei der diesjährigen Berlinale uraufgeführte Verfilmung ergehen. Auch sie bietet angesichts der überwiegend ruppigen und dünnhäutig agierenden Hauptfigur wenig Raum für Ambivalenz, jedenfalls nicht auf den ersten Blick. 

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Wohl aber umso mehr für Hazals Wut. Diese nimmt eine zentrale Position ein. Wenn Hazal und ihre Freundinnen ihr freien Lauf lassen, dient das auch dazu, die eigenen Bedürfnisse zu erforschen, also auch sich selbst. 

Zugleich wird die fatale Wirkung deutlich, die Wutausbrüche entfalten können: Die Eskalation des zunächst relativ harmlosen Streits am U-Bahn-Gleis bereitet den Boden für Hazals bis dahin größte Lebenskrise. Diese durchlebt sie weder als Opfer noch als Vorbild. Sondern als allzu menschliches Individuum auf der Suche nach Eigenständigkeit.

„Die Gesellschaft wird entlarvt"

„Hazals Welt ist eine, die nicht nur ich, sondern viele Migrant*innen in Deutschland und Europa kennen“, wird die Regisseurin und Co-Drehbuchautorin Asli Özarslan vom Verleih zitiert. „Es ist ein Leben, das darin besteht, sich ständig behaupten oder beweisen zu müssen. In Hazal wird diese Gesellschaft entlarvt.“

Anstatt komplexe Gemengelagen durch verschiedene Erzählstränge zu beleuchten, folgt der Film konsequent der Perspektive der allgegenwärtigen Protagonistin. Subtile Kameraeinstellungen und Situationen, die sich nicht immer sofort erschließen, sorgen für atmosphärische Tiefe und Spannung, insbesondere während der Szenen nach der Flucht aus Deutschland. Auch wenn das, was in Hazal arbeitet, letztendlich diffus bleibt. 

Aufforderung zum Nachdenken

Um zu einer Erkenntnis zu kommen, ist die Interpretation der Zuschauenden gefragt. Man kann dies auch als Aufforderung verstehen, mehr geistige Energie und Empathie aufzubringen, um zumindest ansatzweise nachzuvollziehen, was Menschen, die zwischen allen Stühlen sitzen, mitunter durchleben.

Dass das Ganze funktioniert, liegt nicht zuletzt an Hauptdarstellerin Melia Kara. Mit einfachen Mitteln erzielt sie maximale Wirkung. Das spricht auch für Özarslans Regieleistung, die in diesem Film überwiegend mit Laiendarsteller*innen gearbeitet hat. Und die ihrer Reihe von Werken über soziale und kulturelle Identitäten ein weiteres und sehr berührendes hinzugefügt hat. Der Blick hinter die ruppige Fassade lohnt sich.

„Ellbogen“ (Deutschland 2024), ein Film von Asli Özarslan, nach dem Roman von Fatma Aydemir, mit Melia Kara, Jamila Bagdach, Aysa Utku, Nurgül Ayduran u.a., 86 Minuten.

jip-film.de

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